14.01.2019

Verschleppung zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion


Wie es damals in unserer Gemeinde war, was die Menschen dachten und fühlten, wie sie sich verhielten, wie sie die körperlichen und seelischen Belastungen erlebten und überstanden, welchen Lebensbedingungen sie ausgesetzt waren, erzählt Theresia Glaser-Metzger:

» Am Vorabend der Katastrophe kehrte ein Angestellter der Gemeinde aus Temeschburg zurück. Auf dem Weg vom Bahnhof in den Ort hielt er bei Franz Lauritz (Uhrmacher) kurz an und teilte ihm mit, daß in den nächsten Tagen alle Deutschen im Alter zwischen 17 und 35 Jahren zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert würden. Lauritz-Bacsi machte sich daraufhin sofort auf den Weg und gab die schreckliche Nachricht weiter.

Trotz großer Betrübnis und Verzweiflung setzten in den Familien und in der Nachbarschaft Überlegungen ein, was man dagegen tun sollte. Sehr viele wählten den Weg in Verstecke. Ich selbst hielt mich acht Tage in der Handspeis bei Kastelbergers auf.  In dieser Zeit waren meine Eltern ständigen Verhören ausgesetzt. Als die Drohung ausgesprochen wurde, man werde meine Eltern deportieren, wenn ich nicht aus meinem Versteck herauskäme, fügte ich mich in das Unabänderliche und meldete mich zusammen mit vielen anderen bei der Gendarmerie. Hier verbrachten wir zwei Tage und Nächte bis ein Transport zusammengestellt war, bereits der dritte in unserem Dorf.
Am 15. Jänner 1945 verlud man uns auf einen Lastwagen und transportierte uns nach Gataia. Mit mir zusammen waren: Johann Damit, Heidi Fischer, Jakob Kirch und seine Schwägerin, Frieda Lauritz, Elisabeth Müller, Magdalena Müller, Hans Neumann, Anna Österreicher, Heinrich Österreicher, Magdalena Schmidt, Franz Thal und Hilda Weinrauch. Nach einer Übernachtung, selbstverständlich auf dem Fußboden, ging es in der Früh weiter per Lastwagen zum Temeschburger Hauptbahnhof. Hier erfolgte die Einwaggonierung, und zwar je 30 Personen in einem Viehwaggon. Kurz vor der Abfahrt bat uns ein Ehepaar aus Moritzfeld, auf ihre Kinder, 17 und 18 Jahre alt, zu schauen, uns ihrer anzunehmen, was wir dann selbstverständlich auch taten. Die Fahrt ging bis Jasi, wo wir in größere russische Waggons umgeladen wurden. Diesmal waren bis zu 60 Personen in einem Wagen zusammengepfercht.

Die Reise dauerte sechs Tage. Während der Fahrt durften wir nicht ein einziges Mal den Waggon verlassen.
Das Essen, meistens aus einer dünnen Suppe bestehend, und das Wasser wurden in Eimern verabreicht. Mit dem Essen war es nicht so schlimm, da wir ausreichend Lebensmittel von zu Hause mitgenommen hatten. Zur Verrichtung der Notdurft war im Wagenboden ein Loch ausgeschnitten worden. So sah unser Klosett aus.
In unserem Waggon fungierte eine rumänische Frau aus Temeschburg als Aufseherin. Ihre Haltung uns gegenüber kann als gleichgültig bis feindselig bezeichnet werden. Als ich einmal starkes Nasenbluten hatte, ersuchte ich sie um Hilfe. Sie sah mich an, drehte sich um und überließ mich meinem Schicksal. Hilfe brachte dann ein russischer Offizier. Er verließ den Waggon und kam kurze Zeit später mit einem deutschen Arzt aus Warjasch, auch ein Deportierter, zurück, der mich dann behandelte.

Nach einer Fahrzeit von acht Tagen langten wir am Bestimmungsort Jena Kieva ein. Der erste Weg führte ins städtische Bad. Der Aufforderung, uns zu entkleiden, kamen wir zunächst nicht nach, weil es zu Hause in unserem Dorf nicht üblich war, sich vor anderen Menschen auszuziehen. Als wir uns auch der zweiten Aufforderung nicht fügten, rissen Offiziere einigen von uns kurzerhand die Kleider vom Leibe, worauf sich alle dem Unabänderlichen beugten. Die zugleich vorgenommene Entlausung unserer Kleider brachte einen einschlägigen Erfolg. Als wir sie wieder angezogen hatten, spürten wir zum ersten Mal in unserem Leben, wie es ist, wenn man von Läusen geplagt wird.
Nun ging es ins Lager, ein riesig großes Gebäude, das früher als Fabriksbad in Verwendung stand. Die 200 Personen fassenden Schlafräume waren mit Doppelbetten aus Eisen ausgestattet. Die ersten zwei Jahre wurde mit Kohlenöfen geheizt, dann installierte man eine Zentralheizung. Zum Waschen stand ein sehr großer Waschraum zur Verfügung.
Am Tag darauf erfolgte die Arbeitszuweisung. Ich arbeitete drei Jahre lang in einem Hüttenwerk, ein Jahr in einer Ziegelfabrik und zuletzt ein Jahr auf einer Kolchose. Die Arbeitszeit betrug acht Stunden pro Tag und das sechs Mal in der Woche.
Im Hüttenwerk wurde in drei Schichten gearbeitet. Dieser Umstand bedingte daß mein arbeitsfreier Tag auf den Mittwoch fiel. An Arbeitsorten ohne Schichtarbeit galt durchgehend der Sonntag als arbeitsfrei.

Der Tagesablauf vollzog sich während der vielen Monate immer im gleichen Rhythmus: Aufstehen, Waschen und Frühstücken. Die Frühstücksgabe bestand aus Tee, 800 Gramm Brot (für den ganzen Tag bemessen) und ab und zu ein Stückchen (ein Teelöffel hätte die doppelte Menge aufnehmen können) Butter. Der Weg zur Arbeit dauerte etwa 10 Minuten. In der ersten Zeit begleiteten uns Wachposten, später durften wir ohne Bewachung gehen. Auf dem Arbeitsplatz arbeiteten wir mit Einheimischen zusammen. Das gegenseitige Verhältnis war im Allgemeinen gut, hatten wir doch die gleichen Arbeiten zu verrichten.

Das Mittagessen wurde nur an Essenskartenbesitzer verabreicht. Solche besaßen nur die Einheimischen. Der Wahrheit zuliebe muß aber gesagt werden, daß sie uns nicht selten einen Teil ihrer Ration überließen, meistens Brot. In der letzten Zeit erhielten auch wir Essenskarten.
Zum Abendessen gab es zunächst Brennessel- oder Zuckerrübensuppe, dann Hirsebrei, Gerstensuppe oder gekochten Weizen. Ab und zu erhielten wir ein Stück Fleisch.
Eine Verbesserung der Verpflegung trat ein, als Einheimische zwei Mal pro Woche Lebensmittel an uns verkaufen durften. Es war fast wie auf dem Markt zu Hause. Angeboten wurden hauptsächlich gekochter Kukuruz und eine Art von Bohnenkuchen.
Die Abende verliefen ohne Abwechslung. Wir saßen beisammen und sprachen von zu Hause. Das beliebteste Thema hieß Essen. Daneben strickten wir und aßen Brot, vor allem in den letzten Jahren, als wir es kaufen konnten.
Im dritten Aufenthaltsjahr durften wir schon Märkte außerhalb des Lagers besuchen. Eingekauft wurden hauptsächlich Lebensmittel.
Im Lager herrschte strenge Geschlechtertrennung. Die Männer waren im Erdgeschoß und wir Frauen im ersten Stockwerk untergebracht. Gegenseitige Besuche zogen Bestrafungen nach sich. Man wollte vor allem Nachwuchs verhindern. Deshalb verabreichte man uns auch sexuelle Bedürfnisse reduzierende Mittel im Essen. Ich hatte innerhalb von vier Jahren nicht ein einziges Mal die Regel.
Von zu Hause wußten wir überhaupt nichts. Im Mai 1945 teilte uns ein Offizier mit, daß Deutschland kapituliert habe und der Krieg damit beendet sei. Von der Flucht im Herbst 1944, von der Enteignung, Verfolgung und den vielen anderen Drangsalen hatten wir keine Ahnung. Der Briefverkehr funktionierte überhaupt nicht. Ich erhielt während der fünf Jahre einen einzigen Brief von meinem Vater. Von meinem Cousin Georg Kastelberger, der in Stuttgart wohnte, erreichten mich einige Briefe, wohl ein Zeichen dafür, daß die Verhinderung der Korrespondenz von den rumänischen Behörden ausging.

In der Zwischenzeit verringerte sich die Zahl der Lagerinsassen zusehends. Kranke, nicht mehr Arbeitsfähige, wurden entlassen und nach Hause bzw. nach Ostdeutschland transportiert. Darunter befand sich auch Fischer Heidi. Sie kam nach Ostdeutschland, fuhr dann aber von dort nach Hause.
Nach und nach entwickelte sich im begrenzten Rahmen eine Art geselligen Lebens. Wir durften zwei deutsche Filme sehen, einer der beiden war »Die Frau meiner Träume«. Auch Theateraufführungen fanden statt. Eine Gruppe Siebenbürger veranstaltete bunte Abende. Im letzten Jahr durfte sogar an den Samstagen getanzt werden. Die Musik dazu besorgten ein Temeschburger und ein Siebenbürger Sachse.

Die geleistete Arbeit wurde entlohnt. Anfangs betrug die Entlohnung 200 Rubel, sie steigerte sich dann bis auf 800 Rubel im letzten Jahr.
Die ärztliche Versorgung funktionierte bei kleineren Erkrankungen. Zweimal in der Woche ordinierte eine Ärztin im Lager. Kranke konnten sich zur Untersuchung anmelden. Sie verabreichte Medikamente, bei länger dauernden Erkrankungen verfügte sie die Verlegung ins Krankenzimmer. Ich selbst hielt mich sechs Wochen dort auf, um eine Fußverletzung auszuheilen. Daß diese doch einigermaßen zufriedenstellende medizinische Betreuung in erster Linie der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit diente, geht daraus hervor, daß man schwer Erkrankte erst gar nicht behandelte, sondern nach Hause transportierte.

Hier möchte ich nun vom tragischen Schicksal unseres Landsmannes Hansi Neumann berichten. Er arbeitete im Bereich der Wasserleitungsinstallationen und -reparaturen. Dabei zog er sich im Winter bei Außenarbeiten eine Lungenentzündung zu. Infolge seiner menschlichen Umgänglichkeit und guten Arbeitsleistungen genoß er bei Mitarbeitern und Vorgesetzten hohes Ansehen. Man war daher um seine Genesung besorgt und transportierte ihn ins Krankenhaus. Nach längerem Aufenthalt kehrte er geheilt wieder ins Lager zurück. Durch widrige Umstände, ständige Zugluft im Haus und mangelnder Nachbehandlung, erkrankte er neuerlich. Seine Bitte, ihn nach Hause zu schicken, wurde mit dem Hinweis, er werde sicher wieder gesunden, abgelehnt. Als man erkannte, daß dies nicht eintreten würde, setzte man ihn auf die Liste der Heimkehrenden. Dazu kam es aber nicht mehr, denn er starb in der Nacht vor dem Abgang des Transportes. Tief betrübt und mit dem Schicksal hadernd beschlossen wir Groß-Schamer, ihm ein würdiges Begräbnis zu bereiten. Wir kauften Kleider, hoben selbst ein Grab aus und übergaben ihn auf freiem Feld der Erde. Tiefe Trauer und innere Auflehnung bestimmten noch lange nachher unsere seelische Befindlichkeit.

Im Laufe der Jahre wurde uns wiederholte Male von Offizieren mitgeteilt, daß unser Aufenthalt nicht mehr lange dauern würde, was sich aber nie bewahrheitete. Die Hoffnung schwand, die Ungewißheit wurde zum ständigen Begleiter. Hätten wir in der Anfangsphase geahnt, daß diese elende Lebensführung so lange dauern würde, wären viele zu Selbstmördern geworden.
Im Jänner des letzten Jahres fand ein Wechsel der Lagerleitung statt. Bei seiner Vorstellung eröffnete uns der neue Leiter, daß im Herbst alle deutschen Kriegsgefangenen und Deportierten entlassen würden. Da unsere Hoffnungen durch solche Ankündigungen allzu oft enttäuscht worden waren, glaubte niemand seinen Worten. Das Leben ging weiter, die Zahl der Lagerinsassen war im Laufe der Jahre von 3.000 auf 1.100 gesunken. Dadurch wurde manches leichter.
Der Sommer verging und der Herbst zog ein. Wir spürten, daß etwas im Gang war. Das Gerücht vom Ende der Zwangsarbeit verdichtete sich durch Informationen, die nach und nach durchsickerten, durch das veränderte Verhalten unserer Vorgesetzten wurde es zur Gewißheit. Zunächst wurden die Kriegsgefangenen entlassen, dann nach und nach die Deportierten. Der Zeitpunkt der Abfahrt wurde durch den Arbeitsplatz bestimmt. Als Letzte, zu denen auch ich gehörte, verließen die Kolchosarbeiter den oft verwünschten und gehaßten Aufenthaltsort.
Nach einigen Tagen Quarantäne wurden wir am 15.November 1950 auf den Weg geschickt, diesmal ohne Bewachung und ohne eingehende Maßnahmen. Durften wir während der Hinfahrt die Waggons nicht verlassen, so wollten wir es bei der Heimfahrt selbst nicht.
Die Fahrt ging bis Jasi, wo wir in einem Lager untergebracht wurden. Nach der Übernachtung fragte man uns in der Früh des folgenden Tages, wer nach Deutschland gebracht werden wolle. Da keiner von uns wußte, wie schrecklich die Verhältnisse im neuen Rumänien waren, entschlossen wir uns, nach Hause, nach Groß-Scham, zu fahren.

Die Fahrt erfolgte nicht wie 1945 in Viehwaggons, sondern in Personenwagen. Der Zug von Temeschburg nach Gataia war derart überfüllt, daß wir im Gepäckwagen Platz nehmen mußten. Hier fanden wir Schager Fratschlerinnen vor. Sie freuten sich über unsere Heimkehr und fragten uns sofort: » Kinr, hadr Hunger?« Sie warteten unsere Antwort nicht ab und packten all die Köstlichkeiten aus, auf die wir fünf Jahre verzichten mußten.
Am 29. November erwarteten mich meine Eltern auf dem Bahnhof. Die Gefühle, die das Wiedersehen begleiteten und bestimmten, sind unbeschreiblich. Ich war wieder zu Hause, aber in einem völlig veränderten zu Hause. Nichts von dem, was wir während der fünf Jahre in unseren Gedanken, Herzen und Träumen ersehnten, was uns Mut und Kraft zum Durchhalten verlieh, war gleich geblieben. Alles war schlechter.

Die Rückschau nach vier Jahrzehnten auf die damaligen Ereignisse und Geschehnisse bewegt mich zutiefst. Alles wird gegenwärtig, die Angst im Versteck, die Sorge um meine Eltern, die Ungewißheit über das weitere Schicksal, die Demütigungen und Entwürdigungen, die dramatischen Bilder vom Abschied, die Mißachtung der persönlichen Rechte, das der Willkür Ausgesetztsein, die Reduzierung der gesamten Lebensführung auf ein Minimum der Möglichkeiten.

- Auszug aus:     
Heimatbuch der deutschen Gemeinde Groß-Scham im Banat
Petri, Anton Peter Dr.; Schmidt, Hans
Herausgegeben von der Groß-Schamer Heimatortsgemeinschaft,
Ebenau, 1987