Wie es damals in unserer Gemeinde
war, was die Menschen dachten und fühlten, wie sie sich verhielten, wie sie die
körperlichen und seelischen Belastungen erlebten und überstanden, welchen
Lebensbedingungen sie ausgesetzt waren, erzählt Theresia Glaser-Metzger:
» Am Vorabend der Katastrophe kehrte
ein Angestellter der Gemeinde aus Temeschburg zurück. Auf dem Weg vom Bahnhof
in den Ort hielt er bei Franz Lauritz (Uhrmacher) kurz an und teilte ihm mit,
daß in den nächsten Tagen alle Deutschen im Alter zwischen 17 und 35 Jahren zur
Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert würden. Lauritz-Bacsi machte sich
daraufhin sofort auf den Weg und gab die schreckliche Nachricht weiter.
Trotz großer Betrübnis und
Verzweiflung setzten in den Familien und in der Nachbarschaft Überlegungen ein,
was man dagegen tun sollte. Sehr viele wählten den Weg in Verstecke. Ich selbst
hielt mich acht Tage in der Handspeis bei Kastelbergers auf. In dieser Zeit waren meine Eltern ständigen
Verhören ausgesetzt. Als die Drohung ausgesprochen wurde, man werde meine
Eltern deportieren, wenn ich nicht aus meinem Versteck herauskäme, fügte ich
mich in das Unabänderliche und meldete mich zusammen mit vielen anderen bei der
Gendarmerie. Hier verbrachten wir zwei Tage und Nächte bis ein Transport
zusammengestellt war, bereits der dritte in unserem Dorf.
Am 15. Jänner 1945 verlud man uns
auf einen Lastwagen und transportierte uns nach Gataia. Mit mir zusammen waren:
Johann Damit, Heidi Fischer, Jakob Kirch und seine Schwägerin, Frieda Lauritz,
Elisabeth Müller, Magdalena Müller, Hans Neumann, Anna Österreicher, Heinrich
Österreicher, Magdalena Schmidt, Franz Thal und Hilda Weinrauch. Nach einer
Übernachtung, selbstverständlich auf dem Fußboden, ging es in der Früh weiter
per Lastwagen zum Temeschburger Hauptbahnhof. Hier erfolgte die
Einwaggonierung, und zwar je 30 Personen in einem Viehwaggon. Kurz vor der
Abfahrt bat uns ein Ehepaar aus Moritzfeld, auf ihre Kinder, 17 und 18 Jahre
alt, zu schauen, uns ihrer anzunehmen, was wir dann selbstverständlich auch
taten. Die Fahrt ging bis Jasi, wo wir in größere russische Waggons umgeladen
wurden. Diesmal waren bis zu 60 Personen in einem Wagen zusammengepfercht.
Die Reise dauerte sechs Tage.
Während der Fahrt durften wir nicht ein einziges Mal den Waggon verlassen.
Das Essen, meistens aus einer dünnen
Suppe bestehend, und das Wasser wurden in Eimern verabreicht. Mit dem Essen war
es nicht so schlimm, da wir ausreichend Lebensmittel von zu Hause mitgenommen
hatten. Zur Verrichtung der Notdurft war im Wagenboden ein Loch ausgeschnitten
worden. So sah unser Klosett aus.
In unserem Waggon fungierte eine
rumänische Frau aus Temeschburg als Aufseherin. Ihre Haltung uns gegenüber kann
als gleichgültig bis feindselig bezeichnet werden. Als ich einmal starkes
Nasenbluten hatte, ersuchte ich sie um Hilfe. Sie sah mich an, drehte sich um
und überließ mich meinem Schicksal. Hilfe brachte dann ein russischer Offizier.
Er verließ den Waggon und kam kurze Zeit später mit einem deutschen Arzt aus
Warjasch, auch ein Deportierter, zurück, der mich dann behandelte.
Nach einer Fahrzeit von acht Tagen
langten wir am Bestimmungsort Jena Kieva ein. Der erste Weg führte ins
städtische Bad. Der Aufforderung, uns zu entkleiden, kamen wir zunächst nicht
nach, weil es zu Hause in unserem Dorf nicht üblich war, sich vor anderen
Menschen auszuziehen. Als wir uns auch der zweiten Aufforderung nicht fügten,
rissen Offiziere einigen von uns kurzerhand die Kleider vom Leibe, worauf sich
alle dem Unabänderlichen beugten. Die zugleich vorgenommene Entlausung unserer
Kleider brachte einen einschlägigen Erfolg. Als wir sie wieder angezogen
hatten, spürten wir zum ersten Mal in unserem Leben, wie es ist, wenn man von
Läusen geplagt wird.
Nun ging es ins Lager, ein riesig
großes Gebäude, das früher als Fabriksbad in Verwendung stand. Die 200 Personen
fassenden Schlafräume waren mit Doppelbetten aus Eisen ausgestattet. Die ersten
zwei Jahre wurde mit Kohlenöfen geheizt, dann installierte man eine
Zentralheizung. Zum Waschen stand ein sehr großer Waschraum zur Verfügung.
Am Tag darauf erfolgte die
Arbeitszuweisung. Ich arbeitete drei Jahre lang in einem Hüttenwerk, ein Jahr
in einer Ziegelfabrik und zuletzt ein Jahr auf einer Kolchose. Die Arbeitszeit
betrug acht Stunden pro Tag und das sechs Mal in der Woche.
Im Hüttenwerk wurde in drei Schichten
gearbeitet. Dieser Umstand bedingte daß mein arbeitsfreier Tag auf den Mittwoch
fiel. An Arbeitsorten ohne Schichtarbeit galt durchgehend der Sonntag als
arbeitsfrei.
Der Tagesablauf vollzog sich während
der vielen Monate immer im gleichen Rhythmus: Aufstehen, Waschen und
Frühstücken. Die Frühstücksgabe bestand aus Tee, 800 Gramm Brot (für den ganzen
Tag bemessen) und ab und zu ein Stückchen (ein Teelöffel hätte die doppelte
Menge aufnehmen können) Butter. Der Weg zur Arbeit dauerte etwa 10 Minuten. In
der ersten Zeit begleiteten uns Wachposten, später durften wir ohne Bewachung
gehen. Auf dem Arbeitsplatz arbeiteten wir mit Einheimischen zusammen. Das
gegenseitige Verhältnis war im Allgemeinen gut, hatten wir doch die gleichen
Arbeiten zu verrichten.
Das Mittagessen wurde nur an
Essenskartenbesitzer verabreicht. Solche besaßen nur die Einheimischen. Der
Wahrheit zuliebe muß aber gesagt werden, daß sie uns nicht selten einen Teil
ihrer Ration überließen, meistens Brot. In der letzten Zeit erhielten auch wir
Essenskarten.
Zum Abendessen gab es zunächst
Brennessel- oder Zuckerrübensuppe, dann Hirsebrei, Gerstensuppe oder gekochten
Weizen. Ab und zu erhielten wir ein Stück Fleisch.
Eine Verbesserung der Verpflegung
trat ein, als Einheimische zwei Mal pro Woche Lebensmittel an uns verkaufen
durften. Es war fast wie auf dem Markt zu Hause. Angeboten wurden hauptsächlich
gekochter Kukuruz und eine Art von Bohnenkuchen.
Die Abende verliefen ohne
Abwechslung. Wir saßen beisammen und sprachen von zu Hause. Das beliebteste
Thema hieß Essen. Daneben strickten wir und aßen Brot, vor allem in den letzten
Jahren, als wir es kaufen konnten.
Im dritten Aufenthaltsjahr durften
wir schon Märkte außerhalb des Lagers besuchen. Eingekauft wurden hauptsächlich
Lebensmittel.
Im Lager herrschte strenge
Geschlechtertrennung. Die Männer waren im Erdgeschoß und wir Frauen im ersten
Stockwerk untergebracht. Gegenseitige Besuche zogen Bestrafungen nach sich. Man
wollte vor allem Nachwuchs verhindern. Deshalb verabreichte man uns auch sexuelle
Bedürfnisse reduzierende Mittel im Essen. Ich hatte innerhalb von vier Jahren
nicht ein einziges Mal die Regel.
Von zu Hause wußten wir überhaupt
nichts. Im Mai 1945 teilte uns ein Offizier mit, daß Deutschland kapituliert
habe und der Krieg damit beendet sei. Von der Flucht im Herbst 1944, von der
Enteignung, Verfolgung und den vielen anderen Drangsalen hatten wir keine
Ahnung. Der Briefverkehr funktionierte überhaupt nicht. Ich erhielt während der
fünf Jahre einen einzigen Brief von meinem Vater. Von meinem Cousin Georg
Kastelberger, der in Stuttgart wohnte, erreichten mich einige Briefe, wohl ein
Zeichen dafür, daß die Verhinderung der Korrespondenz von den rumänischen
Behörden ausging.
In der Zwischenzeit verringerte sich
die Zahl der Lagerinsassen zusehends. Kranke, nicht mehr Arbeitsfähige, wurden
entlassen und nach Hause bzw. nach Ostdeutschland transportiert. Darunter
befand sich auch Fischer Heidi. Sie kam nach Ostdeutschland, fuhr dann aber von
dort nach Hause.
Nach und nach entwickelte sich im
begrenzten Rahmen eine Art geselligen Lebens. Wir durften zwei deutsche Filme
sehen, einer der beiden war »Die Frau meiner Träume«. Auch Theateraufführungen
fanden statt. Eine Gruppe Siebenbürger veranstaltete bunte Abende. Im letzten
Jahr durfte sogar an den Samstagen getanzt werden. Die Musik dazu besorgten ein
Temeschburger und ein Siebenbürger Sachse.
Die geleistete Arbeit wurde
entlohnt. Anfangs betrug die Entlohnung 200 Rubel, sie steigerte sich dann bis
auf 800 Rubel im letzten Jahr.
Die ärztliche Versorgung
funktionierte bei kleineren Erkrankungen. Zweimal in der Woche ordinierte eine
Ärztin im Lager. Kranke konnten sich zur Untersuchung anmelden. Sie
verabreichte Medikamente, bei länger dauernden Erkrankungen verfügte sie die
Verlegung ins Krankenzimmer. Ich selbst hielt mich sechs Wochen dort auf, um
eine Fußverletzung auszuheilen. Daß diese doch einigermaßen zufriedenstellende
medizinische Betreuung in erster Linie der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit
diente, geht daraus hervor, daß man schwer Erkrankte erst gar nicht behandelte,
sondern nach Hause transportierte.
Hier möchte ich nun vom tragischen
Schicksal unseres Landsmannes Hansi Neumann berichten. Er arbeitete im Bereich
der Wasserleitungsinstallationen und -reparaturen. Dabei zog er sich im Winter
bei Außenarbeiten eine Lungenentzündung zu. Infolge seiner menschlichen
Umgänglichkeit und guten Arbeitsleistungen genoß er bei Mitarbeitern und
Vorgesetzten hohes Ansehen. Man war daher um seine Genesung besorgt und
transportierte ihn ins Krankenhaus. Nach längerem Aufenthalt kehrte er geheilt
wieder ins Lager zurück. Durch widrige Umstände, ständige Zugluft im Haus und
mangelnder Nachbehandlung, erkrankte er neuerlich. Seine Bitte, ihn nach Hause
zu schicken, wurde mit dem Hinweis, er werde sicher wieder gesunden, abgelehnt.
Als man erkannte, daß dies nicht eintreten würde, setzte man ihn auf die Liste
der Heimkehrenden. Dazu kam es aber nicht mehr, denn er starb in der Nacht vor
dem Abgang des Transportes. Tief betrübt und mit dem Schicksal hadernd beschlossen
wir Groß-Schamer, ihm ein würdiges Begräbnis zu bereiten. Wir kauften Kleider,
hoben selbst ein Grab aus und übergaben ihn auf freiem Feld der Erde. Tiefe
Trauer und innere Auflehnung bestimmten noch lange nachher unsere seelische
Befindlichkeit.
Im Laufe der Jahre wurde uns
wiederholte Male von Offizieren mitgeteilt, daß unser Aufenthalt nicht mehr
lange dauern würde, was sich aber nie bewahrheitete. Die Hoffnung schwand, die
Ungewißheit wurde zum ständigen Begleiter. Hätten wir in der Anfangsphase
geahnt, daß diese elende Lebensführung so lange dauern würde, wären viele zu
Selbstmördern geworden.
Im Jänner des letzten Jahres fand
ein Wechsel der Lagerleitung statt. Bei seiner Vorstellung eröffnete uns der
neue Leiter, daß im Herbst alle deutschen Kriegsgefangenen und Deportierten
entlassen würden. Da unsere Hoffnungen durch solche Ankündigungen allzu oft
enttäuscht worden waren, glaubte niemand seinen Worten. Das Leben ging weiter,
die Zahl der Lagerinsassen war im Laufe der Jahre von 3.000 auf 1.100 gesunken.
Dadurch wurde manches leichter.
Der Sommer verging und der Herbst
zog ein. Wir spürten, daß etwas im Gang war. Das Gerücht vom Ende der
Zwangsarbeit verdichtete sich durch Informationen, die nach und nach
durchsickerten, durch das veränderte Verhalten unserer Vorgesetzten wurde es
zur Gewißheit. Zunächst wurden die Kriegsgefangenen entlassen, dann nach und
nach die Deportierten. Der Zeitpunkt der Abfahrt wurde durch den Arbeitsplatz
bestimmt. Als Letzte, zu denen auch ich gehörte, verließen die Kolchosarbeiter
den oft verwünschten und gehaßten Aufenthaltsort.
Nach einigen Tagen Quarantäne wurden
wir am 15.November 1950 auf den Weg geschickt, diesmal ohne Bewachung und ohne
eingehende Maßnahmen. Durften wir während der Hinfahrt die Waggons nicht
verlassen, so wollten wir es bei der Heimfahrt selbst nicht.
Die Fahrt ging bis Jasi, wo wir in
einem Lager untergebracht wurden. Nach der Übernachtung fragte man uns in der
Früh des folgenden Tages, wer nach Deutschland gebracht werden wolle. Da keiner
von uns wußte, wie schrecklich die Verhältnisse im neuen Rumänien waren,
entschlossen wir uns, nach Hause, nach Groß-Scham, zu fahren.
Die Fahrt erfolgte nicht wie 1945 in
Viehwaggons, sondern in Personenwagen. Der Zug von Temeschburg nach Gataia war
derart überfüllt, daß wir im Gepäckwagen Platz nehmen mußten. Hier fanden wir
Schager Fratschlerinnen vor. Sie freuten sich über unsere Heimkehr und fragten
uns sofort: » Kinr, hadr Hunger?« Sie warteten unsere Antwort nicht ab und
packten all die Köstlichkeiten aus, auf die wir fünf Jahre verzichten mußten.
Am 29. November erwarteten mich
meine Eltern auf dem Bahnhof. Die Gefühle, die das Wiedersehen begleiteten und
bestimmten, sind unbeschreiblich. Ich war wieder zu Hause, aber in einem völlig
veränderten zu Hause. Nichts von dem, was wir während der fünf Jahre in unseren
Gedanken, Herzen und Träumen ersehnten, was uns Mut und Kraft zum Durchhalten
verlieh, war gleich geblieben. Alles war schlechter.
Die Rückschau nach vier Jahrzehnten
auf die damaligen Ereignisse und Geschehnisse bewegt mich zutiefst. Alles wird
gegenwärtig, die Angst im Versteck, die Sorge um meine Eltern, die Ungewißheit
über das weitere Schicksal, die Demütigungen und Entwürdigungen, die
dramatischen Bilder vom Abschied, die Mißachtung der persönlichen Rechte, das
der Willkür Ausgesetztsein, die Reduzierung der gesamten Lebensführung auf ein
Minimum der Möglichkeiten.
- Auszug aus:
Heimatbuch der deutschen Gemeinde
Groß-Scham im Banat
Petri, Anton Peter Dr.; Schmidt, Hans
Herausgegeben von der Groß-Schamer Heimatortsgemeinschaft,
Petri, Anton Peter Dr.; Schmidt, Hans
Herausgegeben von der Groß-Schamer Heimatortsgemeinschaft,
Ebenau,
1987